Wie Wohnungslosigkeit entsteht und aussieht ist eine Frage des Geschlechts
Stellen wir uns eine Stadt wie Wismar vor, eine der größten Kreisstädte Mecklenburg-Vorpommerns mit Hochschule, Hansegeschichte und regem Tourismus. Hier leben im Jahr 2024 circa 43.000 Menschen. Etwas genauso viele Menschen sind im Jahr 2024 in Berlin wohnungslos – ein Spitzenwert. Sie sind in Wohnheimen, Pensionen oder anderen Unterkünften untergebracht. Wer dort nicht bleiben kann, lebt in verdeckter Wohnungslosigkeit bei Freund*innen oder Verwandten, in Abrisshäusern oder auf der Straße.
Gründe, warum Menschen in Berlin wohnungs- oder obdachlos werden und auch ihr Umgang damit sind unterschiedlich und fast immer eine Frage des Geschlechts. Für Frauen sind die hauptsächlichen Auslöser von Wohnungslosigkeit neben Armut vor allem Gewalt in Familie oder Partnerschaft. Besonders Frauen versuchen häufig ihre Wohnungslosigkeit zu verdecken. Sie kommen aus Angst oder Scham bei Freund*innen unter, bleiben bei Partner*innen oder Angehörigen, die ihnen Gewalt antun oder gehen Zwangsgemeinschaften ein, um der Straße zu entfliehen. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und die unsicheren Wohnverhältnisse in Berlin verschärfen das Problem zusätzlich.
Wohnungslose Frauen werden oft nicht gesehen
Einmal auf der Straße, sind Frauen anderen Herausforderungen ausgesetzt als Männern. Weibliche Obdachlosigkeit bricht häufig mit dem Klischeebild einer obdachlosen Person, die verwahrlost, alkoholkrank und drogenabhängig ist, in Hauseingängen schläft oder unter der Brücke. Fast immer legen Frauen mehr Wert auf ihr Äußeres, schlafen selten ungeschützt im Freien. Wenige Frauen leben überhaupt offen sichtbar auf der Straße. Denn: Sie müssen sich selbst stärker schützen und können nicht als potenziell hilfloses Opfer erkennbar sein. Insbesondere Frauen brauchen deshalb Räume, wo sie Schutz finden.
Anlaufstelle und Schutzraum nur für Frauen: Evas Haltestelle
Eine von drei Anlaufstellen in Berlin, die einen solchen Schutzraum bietet und sich explizit an Frauen richtet, ist Evas Haltestelle in der Müllerstraße 126. Seit fast 30 Jahren können Frauen, die wohnungslos sind, auf der Straße leben oder vom Verlust ihrer Wohnung bedroht sind, die Einrichtung des Sozialdienstes katholischer Frauen e. V. Berlin im Stadtteil Wedding besuchen. Hier können sie sich ausruhen, pflegen, versorgen und beraten lassen. Die Frauen, die hierherkommen, sind jung, sind alt. Es kommen Frauen mit und Frauen ohne Migrationshintergrund, schwangere Frauen, pflegebedürftige Frauen, Frauen, die obdachlos sind und andere, die in Wohnheimen untergebracht wurden. Es kommen auch Frauen, die einen Vollzeitjob haben, aber in Berlin einfach keine Wohnung finden. Ihnen allen bietet die Anlaufstelle ein breites Spektrum an Angeboten – allein schon durch die Öffnungszeiten von Montag bis Freitag für acht Stunden am Tag. Das erzählt mir Ute Evensen, die als Sozialarbeiterin bei Evas Haltestelle tätig ist.
Versorgung und Beratung unter einem Dach
Durch eine breite Tür gelange ich an diesem Donnerstagmittag von der trubeligen Müllerstraße in den großen Aufenthaltsraum von Evas Haltestelle. Tische, Stühle, Sessel und einige bequeme Couchen stehen hier verteilt, in der Ecke gibt es Regale mit Zeitschriften und Büchern. Hier können die Frauen ausruhen, essen und Tee trinken, miteinander ins Gespräch kommen. Gleich am Anfang meines Besuchs betont Ute Evensen: „Es ist wichtig, dass die Frauen hier selbst und in ihrem eigenen Tempo entscheiden können, ob und welche Angebote sie in Anspruch nehmen.“
Besucherin Karin, die gerade in elegantem Parka und mit einem Strauß Tulpen unter dem Arm die Anlaufstelle betritt, führt mich kurzerhand weiter herum. Im hinteren Teil gibt es Wasch- und Duschräume für die Frauen, zwei Schlafräume für die Zeit der Kältehilfe, die ab Oktober wieder gestartet ist und eine kleine Garderobe mit gespendeter Kleidung. Einmal in der Woche findet auch eine größere Kleiderausgabe statt, erzählt Karin, bei der die Frauen etwas mehr Auswahl haben. Außerdem gibt es eine große Küche, aus der sich schon der Geruch von Pasta und gebratenem Gemüse verbreitet. Hier hilft auch Karin einmal in der Woche mit: „In der Küche wird täglich ein Frühstück zubereitet und mit frischen Zutaten ein warmes Mittagessen gekocht. Außer am Mittwoch, da bereiten wir einen Brunch vor, auch mal mit Lachs oder selbst gemachtem Eiersalat.“
Das Besondere: An Evas Haltestelle ist auch eine Beratungsstelle angegliedert. Hier finden die Frauen Unterstützung bei ihren persönlichen und bürokratischen Anliegen – und das niedrigschwellig, kostenfrei und anonym. Ein Beispiel ist das Projekt Housing First. Housing First funktioniert nach dem Leitgedanken, dass die eigene Wohnung die Basis für eine erfolgreiche Lebensbewältigung darstellt. Das heißt: erst die Wohnung, dann alle weiteren Schritte. Die Möglichkeit auf eine eigene Wohnung ist somit nicht fest an Unterstützungsangebote geknüpft und endet womöglich, wenn Hilfeziele nicht erreicht werden können. Sie steht am Anfang und wird durch weiter Angebote ergänzt, freiwillig und je nach Bedarf.
Ohne Ehrenamtliche wäre die Arbeit hier nicht möglich
Lange war Evas Haltestelle ein rein ehrenamtliches Projekt. Mittlerweile sind hier zwei festangestellte Sozialarbeiterinnen und eine Sozialassistentin tätig, aber noch immer sind es vor allem Ehrenamtliche, die das Projekt tragen. Seit einigen Jahren erhält die Anlaufstelle eine staatliche Mitfinanzierung – als einzige der drei Anlaufstellen für Frauen in Berlin überhaupt. Diese kann aber auch hier die anfallenden Kosten bei weitem nicht decken. Der Verein muss über Drittmittel und Spenden für die nötige Finanzierung sorgen. Ute Evensen macht deutlich: „Ich finde es traurig für eine so große Stadt wie Berlin, noch immer nicht an mehr Angeboten für Frauen gearbeitet zu haben. Viele Frauen haben Gewalt erlebt und gehen bewusst nicht in geschlechtergemischte Tagestreffs, weil sie dort wieder auf potenzielle Täter treffen können. Wohnungslose Frauen brauchen Schutzräume, bei denen sichergestellt ist, dass sich dort nur Frauen aufhalten“.
In der Berliner Wohnungsnotfallhilfe ist noch viel zu tun!
Ein Blick auf das System der Wohnungslosennothilfe und Anlaufstellen wie Evas Haltestelle, die ohne ehrenamtliches Engagement die dringend notwendige Hilfe für wohnungslose Frauen nicht leisten könnten, zeigt: Es liegt noch viel Arbeit vor dem Land Berlin. Wesentliche Lücken, so die LIGA der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege in Berlin, liegen unter anderem bei Verwaltungspersonal, Haushaltsmitteln und Prozessen, die neuen und bezahlbaren Wohnraum schaffen und Leerstand effizient nutzen.
Die Bundesregierung hatte erst in diesem Jahr einen Nationalen Aktionsplan verabschiedet, um Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden. Laut LIGA gilt dieses Ziel für Berlin jetzt schon als gescheitert, denn die Zahlen wohnungsloser Menschen steigen weiter. Ute Evensen fragt sich, wo genau es in diesen politischen Entscheidungen hakt. Es gebe doch gute Ideen und eigentlichen wüssten alle, was nötig ist. Aber: „Es fehlt einfach an konkreten, praxisorientierten Maßnahmen und Zielen, die messbar und realistisch sind. Wichtig sind auch mehr Prävention zum Thema Wohnraumverlust und finanzielle Sicherheit durch Ämter. Speziell für Frauen braucht es Strukturen, die sie in partnerschaftlichen Gewaltsituationen schützen.“
Anlaufstelle Evas Haltestelle: https://skf-berlin.de/offene-sozialarbeit/wohnungslose-frauen/evas-haltestelle/
Weitere Angebote für wohnungslose Frauen in Berlin: https://www.berlin.de/sen/soziales/besondere-lebenssituationen/wohnungslose/angebote/frauen-1388265.php
Projekt Housing First: https://www.housingfirst.berlin/
Ausstellung „MITTEN UNTER UNS. Wohnungslose Frauen* in Berlin“: https://www.humboldtforum.org/de/programm/laufzeitangebot/ausstellung/berlin-global-freiflaeche-mitten-unter-uns-98731/