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Ein Wohnzimmer ohne Wände

Madalena Wallenstein de Castro ist Künstlerin und Studentin an der Universität der Künste in Berlin. Mit ihrem Projekt „Limbo. Wohnzimmer ohne Wände“ möchte sie auf das Thema Wohn- und Obdachlosigkeit aufmerksam machen. Am 06. Juli 2024 wird sie ihre Kunstinstallation auch vor dem Karuna Pavillon am Boxhagener Platz ausstellen und möchte damit einen Raum für Begegnung schaffen. In einem Interview erzählt sie uns vorab von ihrer Arbeit.
Jana Renkert

Madalena Wallenstein de Castro ist Künstlerin und Studentin an der Universität der Künste in Berlin. Mit ihrem Projekt „Limbo. Wohnzimmer ohne Wände“ möchte sie auf das Thema Wohn- und Obdachlosigkeit aufmerksam machen. Am 06. Juli 2024 wird sie ihre Kunstinstallation auch vor dem Karuna Pavillon am Boxhagener Platz ausstellen und möchte damit einen Raum für Begegnung schaffen. In einem Interview erzählt sie uns vorab von ihrer Arbeit.

 

Madalena, um was geht es in deinem Projekt?

Mein Projekt heißt „Limbo-Wohnzimmer ohne Wände“. Dabei geht es darum, das Konzept eines Wohnzimmers neu zu interpretieren, indem ich versuche, es ohne Wände darzustellen, eine Art Wohnzimmer auf der Straße also. Inspiriert von Menschen, die auf der Straße leben und sich dort ihren eigenen Lebensraum geschaffen haben. Seit letztem Jahr mache ich schon Recherchen zum Thema Obdachlosigkeit. Mir wurde aber bewusst, dass Obdachlosigkeit eigentlich schon immer in meinem Leben war. Ich komme aus Lissabon, wo Obdachlosigkeit sehr sichtbar ist, vor allem in dem Stadtteil, in dem ich groß geworden bin.

Am Anfang des Projekts habe ich einen Prototyp an meiner Uni ausgestellt, ein Sofa, bezogen mit Alufolie von den Berliner Straßen, die zum Drogenkonsum verwendet wurde. Das habe ich an den verkohlten Stellen erkannt. Ich habe gesammelt, bis ich ein Sofa damit bedecken konnte.

Vor allem war es mir aber auch wichtig, ein Projekt gemeinsam mit Betroffenen zu machen und ihnen eine Stimme zu geben. Im vergangenen Jahr habe ich unterschiedliche Leute kennengelernt und sie eingeladen, mit mir zu arbeiten. Das hat nicht immer geklappt. Ich habe verstanden, dass Arbeit mit Obdachlosen sehr viel Zeit braucht und sehr viele persönliche Investitionen und persönliche Beziehungen benötigt. Deshalb habe ich mich entschieden, das über eine längere Zeit zu ziehen. Seit einigen Monaten arbeite ich jetzt gemeinsam mit zwei Frauen, mit Habibi und Janet. Sie sind zwei zurzeit wohnungslose Frauen.

 

Fangen wir einmal ganz von vorn an. Was ist der Unterschied zwischen Wohnungs- und Obdachlosigkeit?

Alle obdachlose Menschen sind auch wohnungslos. Wohnungslosigkeit ist also der Oberbegriff. Darunter gibt es dann die Obdachlosigkeit. Im Gesetz heißt es, Wohnungslosigkeit bedeutet, keinen Mietvertrag, also keine eigene Wohnung zu haben. Betroffene schlafen zum Beispiel bei Freund.innen, in Heimen oder im Auto. Ja, und dann gibt es Obdachlosigkeit und das bedeutet wirklich auf der Straße zu schlafen und den eigenen Alltag auf der Straße zu verbringen. Oft sind diese beiden Zustände aber auch fließend. Selbst wenn man obdachlos ist, heißt das nicht, dass man nicht ab und an auch mal ein Dach über dem Kopf hat.

 

Die Arbeit mit Betroffenen war nicht immer einfach, sagst du. Was waren Hindernisse, mit denen du umgehen musstest?

Viele obdachlose Personen möchten nicht über ihre Erfahrungen sprechen. Denn viele Sachen, die in Verbindung mit Obdachlosigkeit stehen, sind strafbar. Drogenkonsum zum Beispiel, ist in weiten Teilen illegal. Auch auf der Straße zu schlafen ist nicht legal. Es wird oft toleriert, aber es ist strafbar. Da gibt es auch ein paar besondere Regelungen. Im Winter darf man zum Beispiel ein Zelt und eine Matratze auf der Straße haben. Aber wenn die Wintersaison vorbei ist, sind Matratzen und Zelte auf der Straße nicht mehr erlaubt. Ja, also die Illegalität ist glaube ich ein großes Problem, dass viele Menschen am Sprechen hindert. Außerdem haben viele von ihnen Traumata erlebt. Sie werden jeden Tag aufs Neue stigmatisiert. Sie werden schlecht behandelt und dadurch natürlich auch misstrauisch. Im Persönlichen, aber natürlich noch mehr bei Projekten wie meinem, die in der Öffentlichkeit stattfinden.

 

Wie hast du dann Janet und Habibi getroffen, die beiden Frauen, mit denen du jetzt dein Projekt machst?

Janet habe ich bei meiner Recherche kennengelernt. Ich wurde aufmerksam auf ein Projekt gegen Obdachlosigkeit in einem alten Plattenbau in Mitte, Habersaathstraße, der von einer großen Investorenfirma gekauft wurde. Das ganze Gebäude sollte abgerissen und neu aufgebaut werden. Jetzt wird dafür gekämpft, dass das nicht passiert, weil das Gebäude eigentlich immer noch in einem guten Zustand ist und die Menschen, die derzeit darin wohnen, ihre Wohnung verlieren würden. Viele von ihnen wehren sich und sagen, sie gehen nicht weg. Deswegen gelten sie als Besetzer.innen. Andere sind aber tatsächlich ausgezogen und so stehen viele der Wohnungen jetzt leer. Daraufhin wurde eine Initiative namens „Leerstand-Hab-Ich-Saath“ gegründet, die Obdachlosen zu diesem Plattenbau gebracht hat. Janet ist eine von ihnen und über sie habe ich dann auch Habibi kennengelernt.

 

Warum sind die beiden bereit, über ihre Erfahrungen zu sprechen?

Natürlich haben sie durch die Unterkunft in der Habersaathstraße eine gewisse Stabilität, sie können gut schlafen, haben ein Dach über dem Kopf. Das ist schon mal ein großer Unterschied. Janet ist durch ihre Obdachlosigkeit außerdem sehr politisch geworden. Sie arbeitet auch für die Initiative „querstadtein“. Sie führt Interessierte durch den Kiez und erzählt von ihrer Zeit auf der Straße. Sie möchte mehr Aufmerksamkeit für dieses Thema schaffen. Deshalb hat sie auch sofort zugestimmt, bei meinem Projekt mitzumachen. Habibi ist ein bisschen anders. Aber ich glaube, sie interessiert vor allem, dass ich ein Kunstprojekt mache. Sie ist extrem neugierig und hat Lust, Sachen auszuprobieren. Die beiden haben völlig unterschiedliche Erfahrungen auf der Straße gemacht. Deshalb ist es für mich auch so spannend, dass sie beide eine ganz andere Perspektive auf die Obdachlosigkeit mitbringen.

 

Woher kommt der Name „Limbo“?

Eine Zeit lang habe ich versucht, Menschen auf der Straße anzusprechen und sie gefragt, ob sie interviewt werden möchten. Das hat nie geklappt, außer mit Melania. Sie wollte das mit mir machen. Leider ist Melania aber sehr schwer drogenabhängig, was dazu führt, dass sie es kaum schafft, Termine einzuhalten. Eine Zusammenarbeit wurde dadurch leider unmöglich. Ich sehe sie immer noch sehr häufig in der U-Bahn-Station und wenn wir uns treffen, dann quatschen wir immer sehr lange. Aber mehr als das geht nicht.

Ich kenne Melania jetzt seit sechs Jahren oder so, und wir haben wirklich so eine Art Freundschaft aufgebaut. Irgendwann haben wir mal am Kotti geredet. Ich glaube, wir saßen da über eine Stunde und haben geraucht. Irgendwann hat sie angefangen, Teile der Göttlichen Komödie von Dante Alighieri zu zitieren. Erstmal habe ich es gar nicht erkannt und ich musste sie fragen, was das überhaupt ist, was sie da aufsagt. Sie hat mir dann erzählt, sie habe das in der Schule gelernt. Sie komme nämlich aus Italien und dort müssten alle die Göttliche Komödie auswendig lernen. Ich finde das immer wieder lustig, weil sie sagt das ab und zu wieder auf. Das hat mich dann zum Titel meines Projekts inspiriert. Denn in der Göttlichen Komödie findet eine Reise durch drei Welten statt, durch die Hölle, das Paradies und das Fegefeuer. Vor der Hölle gibt es aber noch einen anderen Ort, der heißt Limbo. Das ist der Ort, wo diejenigen hinkommen, die eigentlich keine Sünde begangen haben, die aber nicht der christlichen Glaubensgemeinschaft angehören. Das heißt, sie werden bestraft für etwas, wofür sie eigentlich keine Schuld tragen. Ja, ich glaube, das ist eine sehr stimmige Parallele. Dazu gibt es noch die Bedeutung des Worts „Limbo“, das für sich genommen einen Zustand der Ungewissheit beschreibt. Als ich mein Sofa ausgestellt habe, habe ich Melania eingeladen, den Teil „Limbo“ der Göttlichen Komödie in ihrer Muttersprache einzusprechen. Das hat am Ende leider nicht funktioniert, weil sie nie gekommen ist. Stattdessen hat es dann eine italienische Freundin von mir aufgenommen.

Oft hat man ja nur dieses Konzept von Obdachlosigkeit, aber keine Gesichter dazu. Ich glaube aber, nur wenn man Gesichter wie die von Melania, Habibi oder Janet kennt, versteht man wirklich, was dieses Problem bedeutet. Und dass das auch wir sein könnten. Viele Leute denken immer noch, Obdachlose sind irgendwelche Versager, Menschen, die alles falsch gemacht haben, von Beginn an. Aber das könnte jedem passieren durch unglückliche Lebensumstände, die man nicht immer selbst zu verantworten hat, egal woher man kommt.

 

Du möchtest in deinem Projekt vor allem FINTA*-Personen zu Wort kommen lassen. Kannst du den Begriff kurz erklären? Warum ist es dir wichtig, den Fokus deiner Arbeit auf wohnungslose FINTA*-Personen zu legen?

Der Begriff FINTA* ist eine Bezeichnung für alle, die sich selbst als Frau identifizieren, für intersexuelle, non-binäre, Trans* und Agender Personen. In unserer Gesellschaft werden FINTA*-Personen noch immer diskriminiert. Lebt man als FINTA*-Person auf der Straße, gehen damit zusätzliche Probleme einher. Das habe ich immer wieder im Gespräch mit weiblich gelesenen Personen gemerkt. Hygiene ist eines davon. Es gibt kaum Einrichtungen, die sich darum kümmern, dass menstruierende Personen Hygieneprodukte bekommen. Als obdachlose Person hat man keine festen Toiletten, keinen sauberen Ort, man kann sich nicht täglich sauber machen. Oft gibt es Infektionen. Das ist ein Problem.

Ein noch schlimmeres, wie ich finde, ist Sicherheit. Es ist nicht selten, dass Frauen auf der Straße vergewaltigt werden, nur weil sie in einen Busch gepinkelt haben oder so etwas. Sexuelle Angriffe sind Alltag auf der Straße. FINTA*s, die auf der Straße leben, haben mir immer wieder erzählt, dass sie in ständiger Fluchtbereitschaft sind, immer aufmerksam.

Eine weitere Ebene sind Vorurteile und Scham. Viele weiblich gelesene Personen verstecken sich häufiger, schämen sich noch mehr als andere, über ihre Obdachlosigkeit zu sprechen. Das Bild der Frau in unserer Gesellschaft ist immer noch sehr altmodisch. Frauen sollen eigentlich Kinder haben, eine Familie gründen, gleichzeitig Karriere machen und arbeiten. Wenn man das nicht macht, ist man sofort eine Versagerin. Wenn man dann auch noch auf der Straße landet, hat man in dieser Gesellschaft, in den Augen vieler Menschen, gar keinen Wert mehr.

 

Also eine Art der Mehrfachdiskriminierung. Ist es auch das, was du meinst, wenn du bei deinem Projekt von „Entmenschlichung“ sprichst?

Ja, ich glaube, das ist genau das, was ich erlebe in meiner Arbeit mit obdachlosen Menschen. Sehr oft werden sie einfach nicht als Menschen wahrgenommen, ihnen wird nicht zugehört. Sie werden nicht gefragt, „Was brauchst du eigentlich?“ und noch häufiger werden sie sogar einfach ignoriert. Oder sie werden Opfer verbaler und physischer Gewalt. Das ist eine totale Entmenschlichung der Personen, die direkt vor dir stehen.

 

Obdachlosigkeit ist also mehr, als nur kein Dach über dem Kopf zu haben. Du sagst, es fehlt ein Schutzraum und das Recht auf Stille. Was meinst du damit?

In unserem Grundgesetz ist das Recht auf Wohnraum in den Menschenrechten verankert. Das heißt, wir haben das Recht auf Rückzug und Schutz. Was auch immer passiert, dass man dieses Recht verliert, es sollte dafür gekämpft werden, dass man dieses Recht wiedererlangt. Ja, natürlich gibt es Menschen, die das nicht wollen, die auf der Straße bleiben wollen. Aber die Mehrheit der Leute auf der Straße wollen eine Wohnung. Denn auf der Straße zu leben, heißt auch, keine Ruhe, keine Sicherheit zu haben. Das führt zu mentalen Problemen. Ich glaube, als wohnende Personen sollten wir einfach überlegen, was uns diese Stille bringt, die wir in unserer Wohnung haben oder die wir in uns finden können, weil wir einen Rückzugsort haben. Warum ist uns das so wichtig? Wir müssen überlegen, wieso gibt es Menschen, die das nicht haben? Denn ich glaube, ein Ort der Stille ist die Basis für uns alle. Wenn wir auf den Straßen unterwegs sind, nehmen wir den Lärm und den Trubel ja wahr. Und das ist der Wohnraum derer, die kein Zuhause haben.

 

Als ich zum ersten Mal das Foto von deinem Sofa gesehen habe, da hatte ich noch nicht gelesen, dass es sich um Alufolie handelt, die vom Drogenkonsum stammt. Ich dachte zuerst, die Flecken auf dem Sofa sollen Menstruationsblut darstellen. Wahrscheinlich hat jeder ganz andere Assoziationen und du regst damit zum Nachdenken an, oder?

Ja, das finde ich sehr interessant. Klar, weil man es eben nicht sofort erkennt, gibt es wirklich tausende Assoziationen. Es geht auch ein bisschen darum, was man glauben möchte. Was sehe ich darin? Und genau das finde ich spannend. Man versteht nicht sofort – das eigentliche Thema erkennt man erst auf den zweiten Blick. Nur dann, wenn man ein Stück näher rankommt, versteht man. Das ist genau die Geste, die ich mit meinem Projekt provozieren möchte. Nicht mehr von weit her diese Thematik anzuschauen, sondern nah ranzugehen, jemanden zu treffen, sich gemeinsam hinzusetzen. Verstehen, was Obdachlosigkeit ist.

 

Hast du schon Erfahrungen damit gemacht, dass die Leute das Thema Obdachlosigkeit besser verstanden haben durch deine Kunst?

Ja. Vor drei Wochen war ich in Portugal bei meiner Familie und sie haben mir Fragen zu meinem Projekt gestellt. Zuerst waren sie ein bisschen verwirrt, vor allem meine Oma. Ich versuche immer zu verdeutlichen, dass dieses Klischee von einer Person, die Drogen konsumiert oder betrunken auf der Straße ist, nicht die Regel ist. Es gibt Gründe dafür, weshalb diese Person in diesem Zustand ist. Genauso wie es auch Gründe dafür gibt, weshalb Menschen eine Depression entwickeln. Oder dafür, weshalb man manchmal einfach schlechte Laune hat. Das liegt ja nicht daran, weil man als Versager geboren wurde. Die Gründe für all diese Dinge sind oft sogar sehr ähnlich, nur dass manchen Personen eine gewisse Stabilität in ihrem Leben fehlt. Vor allem beim Thema Drogenabhängigkeit versuche ich immer eine Parallele zu ziehen, die jeder versteht: Viele Menschen betrinken sich, nachdem sie eine Beziehung beendet haben, damit sie den Liebeskummer vergessen. Sie nehmen also auch Substanzen zu sich, um irgendein schlechtes Gefühl wegzudrücken. Und das ist genau das, was auch auf der Straße passiert. Aber es passiert auf einem extremeren Niveau, weil diese Leute eben keinen stabilen Lebenskontext haben. Sucht ist oft nicht die Ursache für Obdachlosigkeit, sie ist die Konsequenz. Natürlich kann man das nicht pauschalisieren. Aber auf der Straße ist der eigene Lebensraum nunmal ein Ort, wo Substanzen konsumiert werden, und vielleicht probierst du das dann irgendwann auch aus. Drogen helfen leider auch, negative Emotionen zu umgehen. Wir als wohnende Personen haben unsere Wohnungen. Da hat man es kuschelig, bequem und warm, da kann man viel besser mit schlechten Gefühlen umgehen.

 

Du hast gesagt, du warst immer schon in Kontakt mit dem Thema Obdachlosigkeit. Was waren deine ersten Begegnungen damit?

Ich bin Ende der 90er Jahre in Lissabon geboren und groß geworden, gegen Ende der Heroinkrise also. Das war damals wirklich nicht zu übersehen. Es war überall. Meine Mutter hat mir, als ich älter war, einmal von einer Situation an einer Bushaltestelle erzählt. Wir haben auf den Bus gewartet und sie habe kurz weggeschaut. Als sie mich wieder ansah, hatte ich plötzlich eine Spritze in der Hand. Ja, ich glaube, das war der erste Kontakt mit dieser Art von Realität. Wir mussten immer über einen Platz in Lissabon nach Hause gehen, wo Obdachlosigkeit und Drogenkonsum sehr präsent waren. Ich glaube, ich war ein sehr kommunikatives Kind und in einem so jungen Alter hat man ja auch noch nicht diese Vorurteile. Ich habe einfach direkt mit Leuten gesprochen und hatte das Glück, dass meine Eltern da sehr offen waren und mich nie zurückgehalten hätten, mit Obdachlosen zu sprechen. Meine Mutter hat gemerkt, dass mich das Thema interessiert und mir Fragen beantwortet. In meiner Familie war Obdachlosigkeit kein Tabuthema, dadurch habe ich gelernt, mich mit damit auseinanderzusetzen, statt es zu ignorieren. Immer wenn meine Eltern gemerkt haben, ich habe Interesse für irgendwas, haben sie versucht, mich zu informieren, statt es zu tabuisieren, gemäß meinem Alter natürlich. Das erhoffe ich mir auch von meinem Projekt. Ich wünsche mir, dass andere Eltern ihren Kindern schwierige Themen genauso vermitteln. Kinder haben noch keine Vorurteile, denn die entwickeln wir erst im Laufe unseres Lebens durch den Einfluss anderer.

Hier in Berlin ist es nochmal krasser als in Lissabon, vor allem Drogenkonsum findet hier einfach mitten in der U-Bahn statt, eigentlich überall. Natürlich möchte ich nicht, dass es Obdachlosigkeit gibt. Aber es ist besser, dass es Teil des Stadtbildes ist, als dass es versteckt wird, wie in Paris zum Beispiel. Das löst das Problem nicht. Wenn Obdachlosigkeit Teil des Stadtbildes ist, ist man damit konfrontiert und kann sie nicht ignorieren. Wir müssen uns nicht fragen, was wir tun können, um Obdachlosigkeit aus dem Stadtbild zu löschen, sondern was wir tun können, um das Problem im Kern zu bekämpfen. Nur dann verschwindet Obdachlosigkeit, aber weil wir sie aufgelöst haben, nicht weil wir sie verdrängen.

 

Wo wir gerade beim Stadtbild sind: Du befasst dich viel mit diskriminierender Architektur. Was ist das?

Bei diskriminierender oder feindlicher Architektur geht es um Stadtplanmaßnahmen, vor allem um die Gestaltung von Objekten des öffentlichen Raumes, die es bestimmten Gruppen nicht erlauben, länger zu verweilen. Das gibt es nicht nur im Bezug auf Obdachlose, sondern auch auf Skater oder jugendliche Gruppen. Zum Beispiel Sitzbänke, die entweder komplett eliminiert werden aus dem öffentlichen Raum oder aber kürzer gestaltet oder mit Armlehnen versehen werden, damit man darauf nicht bequem sitzen oder liegen kann. Es werden auch Stacheln auf dem Boden oder an Mauern angebracht.

Manchmal sind auch super moderne, kunstvolle Designs ein Problem, weil sie den Raum eher versperren, als einen praktischen Nutzen zu erfüllen. Und dann gibt es noch so krasse Sachen wie Chemikalien, die auf den Boden gespritzt werden, die so stinken, dass man dort nicht mehr verweilen kann. Das gleiche gilt für dauerhafte Musik in U-Bahn-Stationen, damit man dort nicht mehr schlafen kann. Es gibt sogar einen bestimmten Ton namens „Mosquito“, der auf einer Frequenz liegt, die wir eigentlich nicht hören, aber doch unterbewusst wahrnehmen können. Auch dieses Störgeräusch wird genutzt, um Obdachlose gezielt zu vertreiben.

 

Woher kommt die Ignoranz, die viele Menschen Obdachlosen im Alltag entgegenbringen?

Ich glaube, viele Leute schämen sich irgendwie. Sie wissen nicht, wie sie helfen können. Andere wollen sich klar abgrenzen und reagieren deshalb gar nicht. Und weil dieses Thema in unserer Gesellschaft noch immer so tabuisiert ist, möchte man mit dieser Ignoranz vielleicht auch ausdrücken „Ich habe nichts zu tun mit dir. Ich muss dir jetzt nicht in die Augen schauen.“ Ich glaube, für viele Menschen ist der Anblick von Menschen in Notsituationen auch einfach bedrückend und sie entscheiden sich deshalb, wegzuschauen.

 

Ist das auch ein systematisches Problem?

Der Kapitalismus ist ein System, in dem wir alle sehr tief drinstecken und in dem der Wert eines Menschen an seiner erbrachten Leistung gemessen wird. Wenn ein Mensch keine Leistung erbringen kann, dann wird vom Staat kaum etwas in diesen Menschen investiert. Das gilt für alle vulnerablen Gruppen, also zum Beispiel auch für Senior.innen. Warum sitzen alte Menschen in Heimen manchmal noch jahrzehntelang ohne Beschäftigung, ohne angemessene Pflege und warten darauf, dass sie sterben? Weil sie keine Leistung mehr für dieses kapitalistische System erbringen können und weil sie für diese Gesellschaft dann einen geringeren Wert haben. Obdachlose Menschen zählen auch dazu. Sie erbringen keine Leistung für den Staat. Meiner Meinung nach erbringt aber jeder Mensch eine Leistung. Auch wenn es nicht zum Fluss von Kapital kommt, dann gibt es trotzdem andere Wege, einen Mehrwert für diese Gesellschaft zu bringen. Zum Beispiel, indem man Aufmerksamkeit für ein soziales Problem schafft. Das ist eine Leistung, die uns vielleicht kein Geld bringt, aber sie ist unerlässlich, damit wir uns als Gesellschaft verbessern können. Deshalb glaube ich, man sollte den Begriff „Leistung“ neu definieren. Menschen auf der Straße haben einen Wert, auch wenn sie nicht dem klassischen gesellschaftlichen Leistungsprinzip entsprechen. Sie können die göttliche Komödie auswendig oder haben eine Doktorarbeit. Aber auch wenn sie das nicht haben, sind sie Teil unserer Gesellschaft, keine Ausgestoßenen, sie sind Menschen, die es verdienen, dass man sie ansieht, ihnen ‚Hallo‘ sagt. Sie haben es verdient, eine Antwort zu bekommen. ‚Tut mir leid, ich habe kein Geld‘ oder ‚Hier 50 Cent. Schönen Tag noch‘, statt einfach aufs Handy zu starren. Oft geht es gar nicht darum, jemandem Geld zu geben, sondern den Menschen in die Augen zu schauen, ihnen ein kleines Lächeln zu schenken.  

 

Was wird es am 06. Juli für die Besucher.innen am Boxi zu sehen geben?

Bei dieser Installation gibt es zwei Ebenen. Ich habe Janet und Habibi, die beiden Frauen, die mit mir arbeiten, interviewt. Diese Interviews lasse ich als Audiodatei abspielen und die Besucher.innen können einige ihrer Geschichten und Erfahrungen von der Straße hören. Und dann gibt es da noch die kollektive Ebene und das ist die Ebene, die mich noch mehr interessiert. Denn ich möchte, dass mein Projekt zum Austausch anregt. Ich habe mir überlegt, was macht man in einem Wohnzimmer? Was macht man draußen? Wir kamen dann auf die Idee, ein Spiel zu entwickeln, ein Memoryspiel der starken Frauen. Auf die Karten drucken wir Bilder und Erinnerungen von Janet und Habibi aus der Zeit, als sie noch in der Obdachlosigkeit waren. Das wollen wir dann mit allen, die neugierig sind, spielen. Das soll zum Gespräch anregen. Ich möchte am Anfang des Tages klarmachen, dass das ein Raum ist, Fragen zu stellen. Das sind zwei sehr offene Frauen und sie nehmen kein Blatt vor den Mund.

 

Gibt es noch etwas, das du noch hinzufügen möchtest?

Ja, ich möchte meinem Team danken, ohne das ich mein Projekt in dieser Form nicht hätte umsetzen können. Vielen Dank an:

Kooperation mit // Janet Amon; Habibi (Silke Brey); Susanne Hindeberg; Janita Juvonen

Produktion // André Correia

Dokumentation (Aufnahme) // Robert Grünheit

Dokumentation (Schnitt) // Juan Manuel Ramirez Villa

 

 

 

Madalena Wallenstein de Castros nächste Ausstellungen findet im Rahmen der Neukölln 48h Aktion und am Karuna Pavillon statt.

 

48H Neukölln Festival 2024 am Weichselplatz, neben dem Spielplatz:

28.06 19h – 22h 

Raum Installation + Lesung Janita Juvonen (19Uhr)

29.06 10h – 22h 

Raum Installation + Memory der Starke Frauen mit Janet Amon and Habibi (14h)

30.06 10h – 19h 

Raum Installation + Memory der Starke Frauen with Janet Amon and Habibi (14h)

 

Am 06.07. am Karuna Pavillon am Boxhagener Platz:

06.07. 10 – 17h

Raum Installation + Memory der Starke Frauen mit Janet Amon and Habibi (11h)

 

 

Jana Renkert
Kontakt: jana.renkert@gmail.com
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