Die Münzen klappern als sie zurück in den kleinen Metallbecher fallen. Ulli sitzt am Boxi zwischen Vogelgezwitscher, Reggea-Klängen und den ersten Sonnenstrahlen des Jahres und zählt sein Geld. Er rechnet laut mit: „Zwölf, vierzehn, siebzehn… vierzig Euro in anderthalb Stunden“, berichtet er stolz. „Weißte was mein Spruch ist? Hör gut zu. Der Spruch dauert wirklich eine Minute. Es gibt ja Leute, die erzählen jedes Mal ihr halbes Leben oder was. Das geht doch eigentlich niemanden was an. Ich hab hier meine zwanzig Zeitungen im Arm. Und dann mach ich immer so“, Ulli klopft dreimal mit der flachen Hand auf seine Brust. „‚Sorry, dass ich störe‘ und dann streich ich so mit der Hand über die Zeitung und sag: ‚Druckfrisch oder paar Groschen für die Rente oder für die Woche. Schönen Tag euch. Oder schönes Wochenende, oder schöne Ostern‘ je nachdem, was grade ist.“

Seit fünf Jahren verkauft Ulli den Karuna Kompass, jeden Nachmittag immer zur selben Zeit, anderthalb Stunden lang. Angefangen habe er, als er mit 55 Jahren Frührentner wurde. „Wegen meine Lunge, meine Leber, Knien, ich hab‘ da so einige Baustellen.“ Er lacht. Hier am Boxi kennen ihn die Leute. „Viele dürfen gar nicht in die Geschäfte rein. Aber weil sie mich alle kennen und ich so freundlich und höflich und nett bin, ist das gar kein Thema. Ja, die wissen ja auch, dass ich Rentner bin. Ein paar kennen meine Geschichte. Manche rennen mir auch hinterher, ‚Heh Ulli, warte mal‘, und schmeißen mir 5 € rein.“

Eigentlich komme er aus Mitte, Chausseestraße. „Das hat sich schon sowas von verändert mein Berlin. Ja, also eigentlich sage ich immer, das ist nicht mehr mein Berlin. Ich bin seit 1979 hier. Für 35 Ostmark hab ich in der Chausseestraße gewohnt. Heute musste noch was dazulegen, dass du auch nur eine Nacht in die Jugendherberge kommst. Und ohne Frühstück!“ Wir lachen.

Der Boxi war schon immer sein Lieblingsplatz. Obwohl er jetzt in Steglitz wohnt, kommt er jeden Tag hierher. „Erstmal verkaufe ich nicht da, wo ich wohne. Alle meine Nachbarn müssen nicht wissen, dass ich zum Beispiel in Zehlendorf oder Steglitz meinen schönen Karuna Kompass verkaufe. Das mache ich schön hier an der Holzbude.“ So nennt er den Pavillon am Boxi. Hier hole er sich jeden Monat ungefähr 50 Zeitungen. „Ich mag die Bude hier sowieso, weil ich verdiene mein Brot hier. Wenn es die Zeitung hier nicht geben würde, hätte ich viel zu wenig. Weil du brauchst fünf, sechs Scheine hier in Berlin. Ja, um halbwegs einigermaßen leben zu können. Ich sag dir ganz ehrlich, mir macht die Stunde hier Laufen nichts aus.“

Früher habe er am Berliner Ensemble gearbeitet als Heizer und Kulissenschieber. „Und inne Schweinebude, äh Schlachthof, da hab ich auch Heizer gemacht.“ Heute bleiben Ulli noch 280€ von seiner Rente, wenn die Miete bezahlt ist. Für Essen, Kleidung, Waschmittel und was er sonst so braucht, reicht das kaum.

Ohne den Kompass würde er nicht Laufen gehen, sagt er. „Dann wäre es betteln. Ich verkauf‘ ja was. Ich geh‘ ja nicht betteln. Naja, also ich sag zwar trotzdem, das ist auch auf irgend‘ne Art betteln. Aber ich biete ja was an. Guck mal, du hast ja auch Mühe. Ja, du schleppst hier im Sommer die Zeitung rum und alle anderen trinken ein Bier und du rennst da rum mit deiner Zeitung und deine Zunge hängt dir bis zum Bauchnabel, auf gut Deutsch. Ja, das ist ja auch anstrengend und dann noch mit meine kaputten Beine. Ja, das ist auch ‘ne Aufgabe. Wenn ich nichts anzubieten hätte, dann würde ich auch nicht betteln gehen, haste gehört? Ich könnte das nicht. Ja, ich kann auch nicht im Mülleimer rumsuchen. Und ich tu‘ ja gerne mit Leute so.“ Er zeigt auf unsere kleine Runde, wie wir da am Boxi in der Sonne sitzen. Ja, er sei ein richtiges Naturtalent, scherzen wir.

Den ein oder anderen blöden Kommentare habe er sich schon anhören müssen in seiner Zeit als Zeitungsverkäufer. „Ja, einer hat zu mir gesagt, ‚Geh doch arbeiten‘. Da hab ich dann gesagt, ‚naja, ich krieg schon fünf Jahre Rente.‘“

„Aber wenn ich das mache, dann weiß ich auch hey, Ulli, du hast, wenn du nach Hause kommst, ein paar Mark auf Tasche. Ja, also mehr als wie nur eine Scheibe Brot mit ‘nem Stückchen Wurst drauf. Viel mehr könnte ich mir nicht leisten, wenn ich das nicht machen würde. Also Rauchen würde gar nicht gehen.“ Ja, das wäre aber gesünder. „Hau ab!“, Ulli lacht. „Ich habe dir doch gesagt, dass das eigentlich nur Medizin für mich ist.“ Zwischen beiden Daumen und Zeigefingern hält Ulli ein Longpape. Seine Hände sind rissig, Handwerkerhände, wie er später sagt. Er dreht sich einen Joint. „Ja, für meine Schmerzen. Aber ich sag dir ganz ehrlich, dafür nehm‘ ich keine Schmerzmittel. Also früher habe ich immer diese 600 Ibuprofen genommen. Aber das war auch immer nur kurz nach der Operation, bis sich das wieder einigermaßen eingespielt hat. Die haben dreimal irgendwas abgeschnitten ringsrum anne Knien.“ Er sei froh, dass die Legalisierung endlich da ist. „Ich musste mich schon wegen zwei Gramm Gras ausziehen. Mach dich mal nackig, hier in so ‘nen komischen Raum rein auf‘m Bahnhof gleich. Von oben bis unten mach dich mal nackig. Und wir wollen doch gucken, was de hast. Musst mich umdrehen, bücken. Ehrlich.“

Obdachlos sei er zum Glück nie gewesen. „Also, ich kann nicht mit 60 Jahre an der Brücke schlafen. Oder auf einer Parkbank. Und dann noch mit meine ganzen kaputten Knochen. Wie lange soll ich denn da liegen?“ Einmal habe er ins Wohnheim gemusst. „Ja, die haben mich ganz link aus meiner Wohnung rausgeschmissen. Meine Frau ist 17 Jahre jetzte tot.“ Er hält kurz inne. Ulli atmet tief ein.  „Und dann war ich 15 Jahre lang alleinerziehend. Ja, und wir haben in einem Haus gewohnt, wo nur Familien drin gewohnt haben. Wir hatten richtig zwei Balkone und ich hatte ‘n Billiard in meine Wohnstube. Ja, ich hatte es mal richtig gut. Mit elektrische Couch, die ist alleene ausgefahren. Mir ging es mal gut. Und die wollten das Haus unbedingt verkaufen. Ja, und da waren zwanzig Hausbesichtigungen. Und die haben die Bude nicht verkloppt gekriegt. Weil ich noch drin gewohnt habe. Ja, als letzter Mieter. Ich habe gesagt, ich zieh hier nicht aus. Hat ja auch viel Geld gekostet. Ich hab‘ meine Wohnstube so richtig nett mit Glasmosaik ringsherum gefliest und so, das sah richtig schick aus. Naja, und die wollten uns loswerden und dann haben wir…“ Er macht eine Pause und schaut in die Ferne auf das rege Treiben auf dem Boxi. Plötzlich bekommt Ulli Tränen in den Augen. „Ja, sagen wir innerhalb von fünf Monaten haben wir drei Abmahnungen bekommen. Eigentlich für nichts. Wir haben gelebt wie sonst auch. Wie die ganzen Jahre davor auch. Ja, und mein Kleener war gerade 15 Jahre alt. Ja, das ging zum Schluss bis zur Zwangsräumung. Ich hab‘ dann versucht, meine Rechtsanwälte mitzubringen. Die schmeißen mich nur raus, weil sie ihr Haus verkaufen müssen. Ja, der Richter hat dann gesagt, okay, Sie haben jetzt noch einen Monat Zeit. Dann war ich erstmal mit meinem Sohn auch in so ‘n Wohnheim. Naja. So kann‘s gehen. Und jetzt sitze ich hier und verkauf‘ die Zeitung. Ach, Gott.“

Er wischt sich die Tränen vom Gesicht. „Bis zum Rausschmiss geht das. Und das kommt noch dazu: Ich war 2014 sehr schwer krank. Also ich bin mit Müh und Not von der Schippe gesprungen, wie man so sagt. Also ich hab‘ zum Schluss noch 48 Kilo gewogen, nach dem halben Jahr. Aber ich wurde dann als geheilt erklärt, also bei mir ist alles in Ordnung gewesen. Ja, also ich war gerade so wieder gesund, da fing das an, eine Abmahnung nach der anderen. Die haben gewusst, ich hab‘ ‘n kleenen Sohn oben. Mein Glasmosaik hab‘ ich dann abgekloppt. Mir ist so viel kaputtgegangen. Ich musste mein Billiard verkaufen und musste vieles einfach weggeben, was ich eigentlich gar nicht weggeben wollte.“ Er kämpft mit den Tränen. „Ja, ja. Aber egal. Dann anderthalb Jahre betreutes Wohnen. Und dann habe ich ‘ne Bude gekriegt. Und da bin ich immer noch. Ja, aber wenn ich das nicht gemacht hätte, dann wer weiß, was aus mir geworden wäre.“

Paule, sein Sohn, ist heute 23 Jahre alt, seine Tochter schon 40. „Die hat mich schon zweimal zum Opa gemacht. Ja, und jetzt muss ich aufpassen, dass mich meine zwei Enkelinnen nicht schon zum Uropa machen. Das geht schneller als man denkt.“ Er lacht. „Ach hilft ja nichts. Du kannst nicht mit schlechter Laune Zeitung verkaufen, das sehen die Leute und niemand nimmt dir eine ab.“

Sein Geheimnis für gute Laune? Hawaiihemden und Kroketten.

„Ich geh auch immer runter zum RAW-Gelände. Da ist ja auch immer Markt. Da kauf ich mir immer schöne Hawaiihemden. Ich liebe Hawaiihemden, haste gehört. Ja, ja, guck mal, ich kann mir nicht so schick anziehen, wenn ich betteln gehe. Normalerweise bin ich ganz schick unterwegs.“ „Im Armani-Anzug“, scherzen wir. Er lacht. „Nein, nicht ganz so. Schöne Wrangler-Hosen, Navys Jacke, schönes Hawaiihemd drüber. Passt immer.“ Er bräuchte nur noch einen Kleiderschrank in der Holzbude. Ulli lacht, „ja, und dann darf ich mich hier, wenn ich Feierabend habe, umziehen!“

„Manchmal werde ich auch zum Essen eingeladen. Manche sagen, nee, ich geb‘ dir kein Geld, aber such dir was auf der Karte aus. Kann ich mir nicht leisten, hier zu essen, so viel Geld hab‘ ich nicht. Aber…“, er streckt den Zeigefinger in die Luft, „ich hab‘ mir letztens eine Heißluftfritteuse geleistet. Ist gesünder und macht keine Arbeit.“ Ullis Lieblingsessen sind Kroketten, „von außen kross und von innen der feine Püree! Entweder mit Bratwurst oder mit Schnitzel.“

Sein Handy klingelt. „Oh, Moment, das ist meine Mama“. „Naa, Mam, was gibt es denn Schönes?“ Die beiden plaudern ein wenig. Er legt auf. „Das war meine liebe Mami. Oder Oma, die ist ja auch schon Oma, nicht nur von mir.“ Ulli habe vier Brüder. Seine Mam, wie er sie nennt, habe die Kinder alle allein großgezogen. „Mein Vater ist ganz jung gestorben, mit 37, Streukrebs. Ja, da haben sie erst einen Lungenflügel operiert. Und dann haben sich wieder Metastasen gebildet und im Körper gestreut. Sie haben noch aufgeschnitten und wieder zugenäht, nach Hause geschickt. Vierzehn Tage später war‘s das auch. Da war ich, lass mich nicht lügen, 16, 17 rum. Aber was soll mein Kleener sagen, der war sieben als meine Frau gestorben ist. Der trägt ja mein Namen zum Glück, sonst hätte ich ihn auch gar nicht gekriegt. Ich hab‘ so schon gekämpft. Ich bin über drei Gerichte gegangen. Das war ‘ne Arbeit, aber ich hab‘ nicht aufgegeben.“ Mit seinem Sohn habe er schon einiges erlebt. Doch in all den schweren Zeiten sei ihnen nie der Spaß abhandengekommen. Er erzählt, er sei früher mit seinem Sohn Airwheel gefahren. Er springt auf und zeigt, wie er damals gefahren ist. „Nach vorne lehnen, Gas geben, so wie Spiderman. Nach hinten lehnen zum Bremsen.“ Er habe es leider nicht mehr, sonst wäre er am nächsten Tag wiedergekommen und hätte uns damit alle einmal um den Boxi fahren lassen.

Dann macht er sich auf den Weg, bedankt sich für den Kaffee. „Ich treff‘ mich jetzt mit meinem Sohn an der Warschauer, der kommt noch mit zu mir und frisst sich den Bauch voll. Kroketten aus der Heißluftfritteuse.“ Wir lachen. „Ich hoff‘ die Rolltreppe an der Warschauer Straße geht. Weil wenn nicht, ja ich komm‘ schon hoch, aber ich hab‘ erstmal keene Luft und ich zieh mich im Prinzip das Treppengeländer hoch. Ja, ich kann ja auch kein Fahrrad mehr fahren. Ich hätte schon längst so ein elektrischen Roller. Aber die Knien machen das nicht mehr mit, dongongongongongong, diese Bewegung wenn ich über unebene Straße fahre. Ich bräuchte schon einen richtig schön gefederten. Aber die haben natürlich auch ihren Preis. Nee, weißt du, was ich mir jetze hole. Ich tu diesen Sommer richtig gut arbeiten und spare das Ganze. Und dann kaufe ich mir ein Dreirad. Vorne mit Korb, hinten kannste noch Sachen reinmachen. Das hat so richtig schöne Armlehnen. Ja, die fahren fünfzig Kilometer, reicht auch, da kann ich den ganzen Tag durch Berlin fahren. Also, ich park den dann vorne an der Warschauer und wenn ich fertig bin, setz ich mich drauf und fahr nach Hause.“

 

Fotos: Megan Auer (www.auermegan.net)