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Jérémie, ein Läufer wie kein anderer

Jérémie Zeitoun aus Paris ist eine Sportskanone, durch und durch. Daran hindert ihn seine neurodegenerative Krankheit nicht, im Gegenteil: In einem Sportrollstuhl nimmt er zusammen mit seinem Team an Wettrennen teil. Nicht nur eine sportliche Leistung – es ist ein Kampf für Inklusion, den er bei jedem Rennen führt.
Jana Renkert

Die Anspannung steigt: Nervös machen sich die Läufer*innen in bunten Shirts in Cergy, nordwestlich von Paris, im Starbereich warm. Unter ihnen ist Jérémie, 28 Jahre alt, der sich ein bisschen anders auf die 18 Kilometer lange Strecke vorbereitet – Boxenstopp statt Dehnübungen. Denn Jérémie ist nicht wie die anderen Läufer*innen. Er sitzt in einem Sportrollstuhl, der an eine Mischung aus Fahrrad und Schlitten erinnert.

Jérémie ist von Friedreich-Ataxie betroffen, einer seltenen neurodegenerativen Krankheit. Seit fast fünfzehn Jahren kann er deshalb nicht mehr gehen und auch das Sprechen fällt ihm immer schwerer. Das hindert ihn aber nicht daran, Sport zu treiben. Mit einem Team von zehn Läufer*innen geht er heute an den Start. Sie ziehen und tragen Jérémie in seinem speziellen Rollstuhl. Das heutige Rennen wird eine große Herausforderung: Es ist ihr erster Trailrun im unebenen Gelände durch Wald und Wiesen.

Genau das Richtige für Jérémie, denn er liebt es, sich neuen Herausforderungen zu stellen, erzählt seine Mutter Lalie: „Jérémie hat immer neue Ideen. Für uns ist er ein echter Motor. Er treibt uns an, gemeinsam Neues auszuprobieren“.

Durch den Sport zurück ins Leben

„Als er sechs war, haben wir gemerkt, dass etwas nicht stimmt“, erinnert sich Lalie. „Jérémie lief mit weit auseinander stehenden Beinen, er fiel immer wieder hin und verfehlte den Bordstein. Ich dachte, er brauche einfach orthopädische Einlagen“. Die Diagnose war ein Schock für die Familie, erinnert sich Jérémies Mutter: „Als er 14 war, ging es nicht mehr ohne Rollstuhl. Er hat sich zurückgezogen und wollte nicht mehr rausgehen“.

Doch Familie Zeitoun hält zusammen und Jérémie baut sich ein Leben trotz seiner Krankheit auf. Er studiert Wirtschaft und arbeitet heute für eine Pariser Unternehmensberatung. „Es macht mich glücklich zu sehen, was Jérémie sich aufgebaut hat. Er lächelt viel und selbst wenn wir nicht immer verstehen, was er sagt, spricht er ohne Punkt und Komma“, sagt seine Mutter lachend. Und all das dank des Sports: „Der Sport hat ihm das Leben gerettet“.

Alles begann im Fitnessstudio, wo Jérémies Vater Frédéric einen Läufer kennenlernt. Aus dieser Begegnung entsteht ein Team mit einem gemeinsamen Ziel: Jérémies Wunsch zu erfüllen, eines Tages an der Startlinie zu stehen. Vor einem Jahr haben sie dann ihr Marathon-Debüt.

Inklusion: ein Hindernislauf

Doch Jérémie ist nicht immer willkommen mit seinem Sportrollstuhl. Oft seien es Details, die fehlen, ohne die das Team aber nicht starten kann. Es sei zum Beispiel häufig nicht möglich, in der Nähe des Startgeländes zu parken oder es gebe keine barrierefreien Toiletten. „Es ist niemals Boshaftigkeit. Ich glaube, es fehlt einfach das Bewusstsein für Menschen mit Einschränkungen und ihre alltäglichen Herausforderungen“, ist sich Lalie sicher.

Vor sieben Jahren muss Jérémies Mutter aufhören zu arbeiten, um sich der Betreuung ihres Sohns zu widmen. „Als die Krankheit bei Jérémie diagnostiziert wurde, ist mir die Decke auf den Kopf gefallen und ich wusste nicht mehr weiter“, erinnert sich Lalie. „Ich hätte mir gewünscht, dass mir jemand zeigt, dass es ein Leben danach gibt“. Deshalb gründet sie 2019 den Verein „Fraterni’Team“, mit dem sie heute Menschen in ähnlichen Situationen unterstützt.

Jérémie will Triathlet werden

Als Jérémie und sein Team die Ziellinie überqueren, sind sie mehr als erschöpft. „Es war ein hartes Rennen. Aber Jérémie hat nicht aufgegeben, auch wenn es kalt war und er Rückenschmerzen hatte“, berichtet einer der Läufer. „Wir mussten ihn sogar Treppen hochtragen. Das war nicht einfach, Jérémie bringt normalerweise schon 80 Kilo auf die Waage und ich glaube, in letzter Zeit hat ihm das Essen noch besser geschmeckt“, fügt er lachend hinzu.

Sie sind die letzten, die das Ziel erreichen und trotzdem die Gewinner. Mit dem Pokal in der Hand bedankt sich Jérémie bei seinem Team: „Es war das härteste Rennen, das ich je gemacht habe. Vielen Dank für eure Entschlossenheit, bis zum Ende durchzuhalten!“.

Nur wenige Minuten nach dem Rennen spricht Jérémie schon mit funkelnden Augen von seiner neusten Idee: Er will Triathlet werden. Seine Eltern und sein Läuferteam werden ihn auch in diesem Vorhaben unterstützen. „Wir alle lernen so viel von Jérémie“, erklärt sein Vater Frédéric. „Zum Beispiel das Hier und Jetzt zu genießen. Ich denke nicht daran, was in zwanzig Jahren sein wird. Wir haben ein schönes Leben – kein einfaches Leben, aber ein schönes“.

 

Text: Jana Renkert, David Coenenberg

Fotos: Jana Renkert

Jana Renkert
Kontakt: jana.renkert@gmail.com
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