Liebe Leser*innen,
es wird langsam wieder dunkler, und damit kommen die besinnlicheren Tage. Eine gute Zeit, um sich mit dem Thema Gedenken zu befassen. Gedenktage und -orte gibt es inzwischen in Hülle und Fülle, darunter viele kuriose Dinge. Im Oktober werden beispielsweise der „Weltposttag der Vereinten Nationen“, der „Weltnudeltag“ oder, in Österreich, der „Tag der Trittsteinbiotope“ begangen. Doch leider muss auch an sehr viel und an immer mehr Leid erinnert werden. Allein in einer Stadt wie Berlin mit seiner häufig schwierigen, wechselvollen Geschichte stolpert man buchstäblich an jeder Straßenecke über die Erinnerung daran. Wie sehen Formen des Erinnerns aus? Muss es immer eine Schrifttafel sein? Und geht Gedenken auch im Internet? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Victoria Kuo, konkret mit dem zukünftigen Gedenken an die Shoah, dem Völkermord an den Juden. Denn es gibt immer weniger Überlebende, die als Zeitzeug*innen mahnen könnten. Also suchen Gedenkstätten nach neuen, digitalen Lösungen. Doch auch an so unerwarteten Orten wie einem Computerspiel entstehen Möglichkeiten des Gedenkens, die nicht immer unumstritten sind. Christoph Balzar stellt Berliner Initiativen vor, die uns die Opfer des – deutschen – Kolonialismus ins Bewusstsein rufen. Denn ein zentrales Mahnmal hierfür gibt es nicht, und so sind es die Betroffenen selbst, die an die Maafa, das große Leid, erinnern.
Auch sie müssen kreativ sein. Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen ist ein Mahnmal für die Opfer politischer Verfolgung und Unterdrückung in der DDR. Das ehemalige Stasi-Untersuchungsgefängnis ist heute eine der besucherstärksten Gedenkstätten Berlins. Wie die Aufarbeitung an einem solchen Ort aussieht, darüber haben wir mit Elise Catrain gesprochen, dort verantwortlich für Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation. Von der Politikerin Vera Morgenstern erfahren wir, wer überhaupt wie entscheidet, an wen und in welcher Form gedacht wird. Das ist viel Paragraphenarbeit. Zugleich wird immer mehr darauf geachtet, möglichst viele in solche politischen Entscheidungen einzubeziehen. Und manchmal wird aus einer kleinen Initiative eine langjährige Gemeinschaft. Dass wir uns überhaupt mit unserer Geschichte auseinandersetzen, ist nicht selbstverständlich. Friedrich Nietzsche, das lernen wir bei der Philosophin Ina Schmidt, hat den Menschen gar als Tier, das sich erinnern kann, beschrieben. Aber wie geht Erinnerung? Wie verlässlich ist sie? Und was macht Erinnerung mit uns als Einzelne und als Gruppe? Diesen Fragen geht ihr Beitrag nach. Dieses große Thema werden wir im nächsten Jahr weiterverfolgen. Denn so vieles ist noch zu besprechen: Wie wird an verstorbene Menschen erinnert, die auf der Straße lebten? Wie an Menschen, deren Gedenkkultur uns fremd erscheint? Wie soll man mit Erinnerungen umgehen, die lange Zeit verdrängt waren? Die unliebsam sind. Wie kann man das Schweigen überwinden? Viele gute Gründe also, uns auch weiterhin treu zu bleiben und zu lesen.
Wir zählen auf euch! Eure Redaktion