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Wie Krieg, nur dass keine Bomben fallen.

Nächste Frage, du bist dran. Alex liest vor: „Wo und wann machen Obdachlose Urlaub?“ Janet lacht. „Tja. Immer? Wir lungern ja nur auf der Straße rum. Oder nie?“ Die Drogen seien wie Urlaub gewesen. Nur damit konnte sie abschalten, raus aus dieser Realität, weg von der Straße.
Megan Auer

Habibi und Janet sitzen am Boxi. In Janets giftgrünem, zusammengebundenen Haar stecken zwei Federn, eine pinke Haarspange. Habibi, ganz in Schwarz, versinkt in ihrem Sessel. Die beiden fallen auf, wie sie da sitzen, im Wohnzimmer ohne Wände. Und die Leute schauen, mustern sie beim Vorbeigehen. „Hallo, habt ihr Lust mit uns über das Thema Obdachlosigkeit zu sprechen?“, fragt Janet immer wieder. Aber nur wenige antworten überhaupt – noch weniger bleiben stehen.

Im Rahmen ihres Projekts „Limbo – Wohnzimmer ohne Wände“ hat Madalena Wallenstein de Castro auch vor dem Karuna Pavillon am Boxhagener Platz ein Wohnzimmer aufgebaut. Ihre beiden Freundinnen Janet und Habibi, zwei ehemals obdachlose Frauen, sind gekommen, um hier über ihre Erfahrungen auf der Straße zu sprechen.  Es soll ein Raum der Begegnung sein, ein Ort, wo das Schweigen über Obdachlosigkeit gebrochen wird.

Doch hier treffen zwei Welten aufeinander, die unvereinbar scheinen.  Wieso will denn niemand stehen bleiben? „Das wundert mich nicht bei dieser Yuppie-Kultur.“ Eiskalter Matcha-Latte schwappt in den Bechern, die an uns vorbeigetragen werden. Daneben wird konsumiert. Und dazwischen das Wohnzimmer ohne Wände. „Die meisten haben irgendwelche Ausreden wie ‚Ich komme gleich wieder.‘“, sagt Madalena. „Wenn sie keine Lust haben, wieso sagen sie es dann nicht einfach?“ Obdachlosigkeit ist tabu. Auch hier, mitten im Marktgetummel.

Wir spielen das „Memory der starken Frauen“. Ein Spiel, das Madalena entwickelt hat. Zu sehen sind Fotos von Habibi und Janet aus ihrer Zeit aus der Obdachlosigkeit. Und Fragen, die zum Gespräch anregen. Nächste Karte, du bist dran. Nina, eine junge Frau, die zufällig am Boxi war, hat sich zu uns gesetzt. Sie liest die nächste Frage vor: „Hast du Angst, auf der Straße zu landen?“ Ja, das habe sie. Sie habe Angst vor Eigenbedarfskündigung. „Wo ist das ursprüngliche Berlin hin? Als Kieze noch Kieze waren. Als es noch bezahlbaren Wohnraum gab?“, fragt Janet. Darauf weiß niemand eine Antwort.

Janet und Habibi leben heute in der Habersaathstraße in einem besetzten Haus. Sie und andere ehemals obdachlose Menschen sind dort im Jahr 2021 in leerstehende Wohnungen eingezogen. „Boah geil – ‘ne Badewanne!“, war das Erste, was Janet damals gesagt hat, als sie ihre neue Wohnung betreten hat. Sie hatte „auf ihrer Platte“ am Alexanderplatz gesessen, als sie gefragt wurde, ob sie nicht in die Habersaathstraße ziehen wolle. So ging es auch Habibi, in ihrem Zelt auf der Oberbaumbrücke. „Nichts ist selbstverständlich. Ich habe auf der Straße gelernt, dankbar zu sein“, sagt Habibi heute. Manchmal haben die beiden Angst, dass sie zurückkommen in die Habersaathstraße und ihre Wohnungen einfach weg sind. Geräumt, die Schlösser ausgetauscht. „Heute legt sich niemand mehr ungefragt zu mir auf meine Matratze. Das ist schön.“, findet Habibi.

Habibi ist gelernte Krankenschwester. Drei Jahre lang hat sie auf der Straße gelebt. Am Anfang im Görlitzer Park, dann auf der Oberbaumbrücke. „Frieren und Hungern war das Schlimmste.“ Ihr Lieblingsessen heute? Kekse. Es habe lange gedauert, bis sie sich überhaupt getraut hat, um Hilfe zu bitten. „Ich habe mich geschämt.“ Vertrauen konnte sie auf der Straße niemandem. „Einen einzigen Freund hatte ich damals.“ Ihn besuche sie heute immer noch regelmäßig.

Die beiden Frauen sind vom Leben gezeichnet. Häusliche Gewalt, psychische Erkrankungen, Drogensucht, Beschaffungskriminalität, Vergewaltigung, Prostitution, Kälte, Hunger, Gewalt auf der Straße. „Auf der Straße leben, ist wie Krieg, nur dass keine Bomben fallen.“ Sie haben sich schutzlos gefühlt, sich geschämt, dass ihnen Fremde beim Schlafen zusehen konnten, beim Klogang, beim Tamponwechseln. Und trotzdem war Straße oft leichter. „Es war einfacher auf der Straße zu bleiben und auf alles zu scheißen“, erzählt Janet. Irgendwann sei ihr alles egal gewesen. „Es sind kleine Dinge, die mich menschlich machen. Mein Lächeln, verdammte Scheiße. Meine Umarmung.“

Nächste Karte, du bist dran. „Gloria!“, rufen Madalena, Janet und Habibi. Auf der Memorykarte ist ein Foto von einem kleinen Kuscheltier zu sehen. „Das war mein erster Hund“, sagt Janet stolz. Heute habe sie zwei Hunde, Chappi und Pinsel. Pinsel tänzelt glücklich um uns herum. Sie genießt die vielen Streicheleinheiten, die sie im Wohnzimmer ohne Wände bekommt. Von Janets grüner Haarfarbe hat sie auch etwas abbekommen. Ein kleiner grüner Punkt auf ihrer Stirn färbt ihr weißes Fell. Dürfen wir ein Foto von euch beiden machen? Und die beiden lachen in die Kamera.

Auch Alex ist stehengeblieben. Vor über drei Jahren hat er beobachtet, wie ein Camp von Obdachlosen in der Rummelsburger Bucht von der Polizei geräumt wurde. „Sie haben alles mit der Walze planiert. Heute stehen da diese fetten Gebäude. Mir stehen die Tränen in den Augen, wenn ich daran vorbeifahre.“

Nächste Frage, du bist dran. Alex liest vor: „Wo und wann machen Obdachlose Urlaub?“ Janet lacht. „Tja. Immer? Wir lungern ja nur auf der Straße rum. Oder nie?“ Die Drogen seien wie Urlaub gewesen. Nur damit konnte sie abschalten, raus aus dieser Realität, weg von der Straße.

Ihre Erlebnisse auf der Straße haben Janet politisiert. Im Rahmen des Vereins „querstadtein“ gibt sie heute Stadtführungen durch Berlin. Dabei teilt sie ihre Perspektive auf die Stadt und informiert über Obdachlosigkeit. Sie spricht über Suchterfahrung und Hygiene, die Bedeutung von Gemeinschaft, über Wohnheime und Gewalt. Ohne ihr neues Zuhause wäre das nicht möglich. Denn die Wohnung in der Habersaathstraße gebe ihr Struktur, „eine Aufgabe, für die es sich lohnt.“

Nach fast drei Stunden im Wohnzimmer ohne Wände haben Janet und Habibi uns viele Fragen beantwortet. Und doch hätten wir dort noch Stunden sitzen und sprechen können, das Memory der starken Frauen vor uns. Über Obdachlosigkeit zu sprechen, ist nicht leicht. Janet und Habibi haben sich dazu entschieden, es trotzdem zu tun. Dem Schmerz, der Scham und den Schicksalsschlägen zum Trotz. Und alles, was wir tun müssen, ist zuhören. Bevor wir gehen, sagt Janet: „Obdachlosigkeit hat keine Lobby. Sie muss eine Stimme kriegen.“

Mehr Infos:

Interview mit der Künstlerin Madalena Wallenstein de Castro über das Projekt „Limbo – Wohnzimmer ohne Wände“:

https://karuna.family/community/ein-wohnzimmer-ohne-waende/

Janets Stadtführungen bei querstadtein:

https://querstadtein.org/tour/obdachlos-politisiert-zu-hause-in-berlin/

Fotos: Megan Auer (auermegan.myportfolio.com/contact)

Text: Jana Renkert
Megan Auer
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Nächste Frage, du bist dran. Alex liest vor: „Wo und wann machen Obdachlose Urlaub?“ Janet lacht. „Tja. Immer? Wir lungern ja nur auf der Straße rum. Oder nie?“ Die Drogen seien wie Urlaub gewesen. Nur damit konnte sie abschalten, raus aus dieser Realität, weg von der Straße.